Header-Bild

SPD-Abteilung 12 | Helmholtzplatz

Werner Rüdiger

1901-1966, Lychener Str. 7


Werner Rüdiger nach seiner Haftentlassung 1954

Schlägt man die Akte von Werner Rüdiger als Opfer des Faschismus auf, so merkt man gleich, dass die Geschichte dieses Sozialdemokraten tiefer geht, als die reinen Aktennotizen vermuten lassen. Ganz oben auf liegt ein handgeschriebener undatierter Aktenvermerk auf der Rückseite eines alten Formulars: „Trotzdem die Gestapo 1936 wußte, welche Funktion er in der Partei ausübte hat man ihn freigelassen. Warum ? ? YA."

Sein Leben begann für einen Sozialdemokraten seiner Zeit nicht außergewöhnlich. Werner Willi Erich Rüdiger wurde am 21. Oktober 1901 in Berlin geboren und war nach der Entlassung aus der Volksschule 1915 gezwungen, eine Arbeit zu ergreifen. Seine Mutter war alleinstehend, er der alleinige Ernährer.

Er trat bereits mit seiner Schulentlassung der Arbeiterjugend mit 14 Jahren bei, sowie im Januar 1916 dem Transportarbeiterverband. In der SAJ nahm er bis 1925 verschiedene Funktionen wahr – unter anderem 9 Jahre im Vorstand - und gehörte nach eigener Aussage zu dem Kreis, der die durch den Weltkrieg zerschlagene Jugendbewegung in Berlin wiederaufbaute. Der SPD trat er bereits 1919 mit 16 Jahren bei und war bis zum Verbot Mitglied, zuletzt als Mitglied im erweiterten Kreisvorstand Prenzlauer Berg und als Kassierer der 28. Abteilung (heute vermutlich Kollwitzplatz).

Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten arbeitete er für den „Neuen Vorwärts“, die sozialistische Aktion und den sozialistischen Pressedienst. Seine Aufgabe war neben der Weitergabe von Schriften die Verbindung mit dem Exilvorstand der SPD aufrechtzuerhalten, erst in Prag, dann später Dänemark und Paris. Außerdem sammelte er in der Roten Hilfe für die Angehörigen inhaftierter Genossen Geld.

Seine Frau Charlotte („Lotte“) unterstützte ihn dabei. Ein Genosse gab nach dem Krieg über sie zu Protokoll, dass er sie seit 1924 über die SAJ kannte, später in der SPD mit ihr zusammen war. Sie führte illegale Sammlungen für Inhaftierte durch und gab illegale Schriften weiter. Sie erkundete die Verhältnisse der Frauen, deren Männer und Söhne inhaftiert waren, damit die „Rote Hilfe“ zielgenau spenden konnte. In ihrer Firma hatte sie mehrmals Schwierigkeiten durch ihre „antifaschistische Einstellung“, wusste Walter Löffler zu beraten, dem sie direkt nach seiner Entlassung die Wohnung für eine erste Zusammenkunft bereitstellte.

Der Rote Stoßtrupp flog Ende 1933 auf und Wolfgang Kersten fungierte als Belastungszeuge.

Verhaftet wurde Werner Rüdiger am 17. Dezember 1933. Er verbrachte 5 ½ Monate in Haft in Berlin-Moabit, angeklagt wurde er wegen der Vorbereitung zum Hochverrat, Verbreitung illegaler Schriften und Weiterführung der sozialdemokratischen Partei. Er wurde aber im Prozess gegen Hodapp und Genossen mangels Beweisen und durch mehrere glückliche Zufälle freigesprochen. Geholfen hatte ihm vor allem, dass trotz Folter die verhafteten Genossen sich nicht gegenseitig verraten haben, um dem Leid zu entkommen.

Es war jedoch nicht Ende seines Widerstands. Bereits vorher Mitglied der Roten Hilfe nahm er dort wieder die Arbeit auf. Er war weiterhin Mitglied der „Gruppe Markwitz“. Über 30.000 RM wurden so an die Hinterbliebenen von verurteilten Genossen verteilt. Erneut von der Gestapo wurde er 1941 vorgeladen, insgesamt dreimal. Da aber alle seiner Bekannten dichthielten, ging die Vorladung günstig für ihn aus. Beruflich wurde er dienstverpflichtet in einen Rüstungsbetrieb: erst Siemens, später das Luftfahrtgerätewerk Hakenfelde. Dort fand er wieder Kontakt zu einigen Genossen, die eine illegale Gruppe bildeten. Diese verbreiteten die Nachrichten der ausländischen Sender weiter und förderten Sabotageakte. Der Betrieb wurde in den Sudetengau verlegt, dort war er Vorarbeiter einer Kolonne von 30 KZ-Häftlingen. Das endete aber bereits nach acht Wochen, als er nach Berlin strafversetzt wurde und nur durch verschiedene Zufälle selbst dem KZ entging. Im Januar ließ er sich krankschreiben und entging so einer erneuten Betriebsverlagerung sowie dem Volkssturm.

Bei der Neugründung der SPD 1945 im Prenzlauer Berg konnte er seine illegalen Kontakte nutzen, um so ehemalige Genossen wieder in die Partei zu bringen. Mit Gründung wurde er dann der erste Kreisvorsitzende der SPD im Prenzlauer Berg. Als sich die Berliner SPD noch 1945 im Prater konstituierte, wurde er hier als 2. Vorsitzender gewählt (das entspricht dem stellvertretenden Landesvorsitzenden heute, allerdings gab es nur einen Stellvertreter). Außerdem übernahm er nach der Befreiung die Funktion erst eines Hausobmanns (2. Mai 1945), später Straßenobmann bzw. Blockobmann für 11 Monate.

Nach dem Krieg stand er zwischen den Fronten zwischen Vereinigungsbefürwortern und -gegnern in der SPD. Die Frage dieser Zeit war: soll als Konsequenz der Machtübergabe an Hitler die beiden Arbeiterparteien sich wieder vereinigen?

Seine große Stunde kam vermutlich am 1.3.1946 in einer sehr aufgeheizten Versammlung im Admiralspalast. Die sowjetische Militäradministration und die KPD wollten hier ein Votum der Funktionäre der SPD für die Vereinigung und hatten dafür alles aufgeboten, einschließlich einer großen Anzahl sowjetischer Offiziere in voller Montur im Saal. Bei seiner Rede wird Otto Grotewohl, der Vorsitzende des Zentralausschusses der SPD („Reichsvorstand“, aber nicht gewählt) immer wieder von der Opposition gegen die Vereinigung unterbrochen. Die Versammlung nimmt einen tumultartigen Verlauf. Als es dann um die Redeliste geht, setzt Werner Rüdiger als ersten Redner nach dem Einleitungsreferat einen Oppositionsredner, immer mehr sprechen sich danach gegen die Zwangsvereinigung aus. Am Ende sprechen sich 2/3 der anwesenden Funktionäre dagegen aus. Schlimmer noch: es wird beschlossen, dass eine Urabstimmung vor einer Vereinigung erfolgen muss. Der Zentralvorstand ist schockiert von diesem Ergebnis und versucht es zu verheimlichen. Die SPD Zeitung Das Volk erwähnt diese Beschlüsse nicht, druckt nur die Rede Grotewohls ab. Erst eine Woche später werden die Mitglieder über den Beschluss zur Urabstimmung informiert. In einer Versammlung von Betriebsgruppenfunktionären wurde dann auch ein gegenteiliger Beschluss gefasst- allerdings auf wackliger Basis. Anders als in den SPD-Abteilungen wurden die Vertreter offen gewählt und die KPD und sowjetische Militäradministration zogen alle Register, um „zuverlässige“ Genossen zur Versammlung zu schicken. Geholfen hat die Show nicht viel. Die Urabstimmungsdebatte nahm an Fahrt und Wucht auf.

Werner Rüdiger ist in dieser Zeit extrem deutlich in seiner Haltung gegenüber der KPD. Anfängliche Zustimmung zu einem Vereinigungsgedanken ist ihm durch das Verhalten der KPD völlig ausgetrieben worden. Er bezeichnet im Kreisverband Prenzlauer Berg die Einheitsbefürworter Rudolf Karsten und Conrad Schaumberg als Verräter an den Interessen der SPD. und fordert: „Auf der Delegiertenkonferenz [Prenzlauer Berg am 16. März 1946] dürfen nur Gegner der Einheit in den Kreisvorstand geschickt werden“ Und schreibt im Telegraf mit  Georg Heims (Weißensee Kreisvorsitzender): „[Die] Funktionäre  [sind] entrüstet, daß der ZA der Sozialdemokratischen Partei eine solche Entwicklung zur Einheit ohne genügende Vorbereitung innerhalb der Mitgliedschaft bzw. der Funktionäre durchgesetzt habe.“

Die Urabstimmung fand am 31. März statt- auf Drängen des Bezirksvorstandes (=Landesvorstand) gegen den Zentralausschuss, der sich als Reichsvorstand der SPD ansah. Aber schon 30 Minuten, nachdem die SPD-Lokale geöffnet worden waren, machte die SMAD Schluss mit der Urabstimmung. Sowjetische Soldaten stürmten in Montur und mit schweren Stiefeln die Wahllokale, Urnen wurden beschlagnahmt, Mitgliederlisten mitgenommen, die Wahlhelfer angeschrien und teilweise zur weiteren Befragung mitgenommen. Werner Rüdiger versuchte die Urabstimmung durchzusetzen, scheiterte daran aber und verlegte sich daraufhin, abstimmungswillige Genossen in den Wedding zu lotsen, wo sie sich wenigstens symbolisch beteiligen konnten.

Danach beteiligte er sich an der Vereinigung der Parteien. Das ging sicher nicht ohne Druck vonstatten. Bereits im Januar war er drei Tage lang durch das Volkskommissariat für Innere Angelegenheit der UdSSR, dem gefürchteten NKWD, verhört worden. Obwohl dann freigekommen, war er sich der Gefahr sicher weiter bewusst. So wurde er zwar auf dem Vereinigungsparteitag des SPD Kreises Prenzlauer Berg am 5. April 1946 zum Vorsitzenden gewählt (neben einem Vertreter der KPD), verfolgte die ganze Veranstaltung jedoch sitzend vom Podium aus und stimmte nicht in den Applaus ein. In der Nacht darauf versuchte (zum 6. April) versuchte er in die Westzone zu fliehen, wurde jedoch aus dem Zug heraus verhaftet. Auf dem ersten Landesparteitag der West-Berliner SPD in der Zinnowitz-Schule in Zehlendorf am 7. April 1946 tauchte er dann unvermittelt auf. Die Schule war im Krieg zum Krankenhaus umfunktioniert worden und als solche noch im Gebrauch, sie bot aber einen unzerstörten Saal. In der vollkommen überfüllten Aula der Schule drängten sich 500 Mitglieder aus ganz Berlin, um die SPD nach der Zwangsvereinigung erneut zu gründen bzw. fortzuführen. Er bat in einem Antrag zur Geschäftsordnung um fünf Minuten für einen Redebeitrag als amtierender 2. Vorsitzender der SPD Berlin. Sein Beitrag ging erst in großer Unruhe unter. Erst Franz Neumann brachte die Versammlung dazu, den Antrag ordnungsgemäß zu behandeln: „Genossen, ich möchte Euch bitten, seid ruhig! Wir verfahren nicht nach den Methoden des Zentralausschusses.“ (Beifall.) vermerkt das Protokoll. Mit nur zwei Ja-Stimmen wurde der Antrag abgelehnt, Werner Rüdiger des Saales verwiesen. Am Ende, nach seiner Wahl zum Landesvorsitzenden, sprach Franz Neumann seine Person aber nochmals an und zeigte Verständnis für die Zwänge, unter denen er stand:

„Mich verbindet eine Freundschaft mit dem Genossen Rüdiger seit dem Jahre 1919. Ich weiss, dass er eine schwere Pflicht erfüllte, als er heute hierher kam und seinen Auftrag ausführte und zu uns sprechen wollte. Wir konnten seinem Wunsche nicht nachkommen. Ich möchte aber doch betonen, dass der Genosse Rüdiger während der gesamten Jahre wo wir mit ihm zusammen gearbeitet haben, einer der anständigsten Genossen war, (Sehr gut!) und dass er diese Anständigkeit gerade im letzten Vierteljahr unter Beweis gestellt hat. Rüdiger hat nicht nur während der legalen Zeit, sondern während der illegalen Zeit viel Mut und Treue bewiesen. Ich möchte hier eins sagen, weil wir ja heute gerade den Fall Rüdiger besprochen haben. Rüdiger hat an dem Tage, an dem ich mit anderen Freunden vor dem Strafsenat des Kammergerichts im Hochverratsverfahren war, wenige Meter von uns im Zuhörerraum gesessen, obwohl in der Anklageschrift auch von ihm die Rede war. Diesen gleichen Mut hat er in vielen anderen Prozessen bewiesen. Ich hoffe, dass wir viele Rüdigers auch auf der anderen Seite haben und dass sie sich menschlich so zeigen, dass wir auch in Kürze sie in unseren Kreisen begrüssen dürfen. (Beifall.)“

Einige Tage später wurde die SPD Berlin (Ost) mit der KPD vereinigt. Werner Rüdiger war als Delegierter anwesend und wurde in die Programmkommission gewählt. Eine Wahl in den Vorstand der SED Berlins lehnte er ab. Am 19. und 20. April wurde die Prozedur auf „Reichsebene“ (Sowjetzone) beschlossen. SPD-Delegierte stimmten für die Vereinigung „ihrer“ Partei mit der KPD, die auf dem gemeinsamen Parteitag am 21./22.April vollzogen wurde und damit die Spaltung der SPD amtlich wurde. Werner Rüdiger war als Delegierter anwesend. Im Ostteil war die SPD mit diesem Parteitag nicht mehr existent. Allerdings war Berlin eine Vier-Mächte-Stadt und Parteien mussten zugelassen werden. In den Westsektoren wurden die SPD, aber nicht die SED, weil neue Partei, anerkannt. Im Osten wurde die SPD nicht anerkannt, weil formal wiedergegründet. Die Ostseite ließ sich daraufhin auf einen Deal ein, von dem sie sich viel erhoffte und nichts bekam. Die SED wurde im Westen zugelassen, verschwand aber recht bald im Promille-Bereich als SEW. Die SPD dagegen wurde auch im Osten zugelassen und erreichte bei der einzigen freien Wahl bis 1990 am 20.Juni 1946 die absolute Mehrheit in Berlin und auch in den Ostsektoren Ergebnisse weit vor der SED.

Das bedeutete jedoch, dass die SPD wieder zugelassen war und am 12. Juni, als dieser Beschluss in Kraft trat, verließ Werner Rüdiger demonstrativ die SED und trat der SPD wieder bei. Er wurde wieder Kreisvorsitzender des Prenzlauer Bergs und und wurde am 20.10.1946 in die Stadtverordnetenversammlung für die SPD gewählt, der er bis 1963 angehörte.

Seine Leidensgeschichte endete aber nicht damit. Am 25. Februar 1949 wurde Werner Rüdiger trotz seiner Immunität als Abgeordneter verhaftet. Er hatte wegen des Verschwindens von zwei Mitarbeitern des Telegraf (der SPD-Zeitung) bei der sowjetischen Militäradministration nachgefragt und war gleich dabehalten worden und im Oktober 1950 wegen „sowjetfeindlicher Einstellung“ zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Werner Rüdiger wurde über seine Frau mitgeteilt, dass er wegen „neofaschistischem Verhalten“ seinen Status als Opfer des Faschismus (OdF) verloren habe und damit auch soziale Vergünstigungen Er sollte angeben, welche das seien, „da wir die Angaben bei einer eventuell zu erstattenden Strafanzeige benötigen.“ Der OdF-Ausschuss bestätigte diese Entscheidung: „Seine Entwicklung nach 1945 zeigt, daß R. aus den bisherigen Fehlern und aus den 12 Jahren Faschismus nichts gelernt hat und bewußt neofaschistischen Tendenzen Vorschub leistete. Die Anerkennung wird gemäß § 5 c zurückgenommen.“ Lässt man die Orwellsche Sprache der DDR weg, bleibt folgender Sachverhalt: Werner Rüdiger hatte sich schuldig gemacht, eine SPD-Zeitung in Berlin zu verteilen und das war „neofaschistisches Verhalten“, für dass er zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde.

Vergessen war er zum Glück nicht. Als die SED gemeinsame Veranstaltungen mit der SPD im Ostteil der Stadt vorschlug, ein kleiner Propagandacoup aus ihrer Sicht, antwortete die SPD mit einer Zusage. Als Redner benannt wurde: „Genosse Werner Rüdiger (z.Zt. in der Haftanstalt Waldheim)“ Um die SED komplett vorzuführen, schlug die SPD die Sporthalle am Strausberger Platz vor, damit entsprechend viele Menschen der Diskussion folgen könnten. Blamiert sprach die SED nie mehr von dem Vorschlag. Das Abgeordnetenhaus (West) erinnerte aber jede Sitzung an ihr inhaftiertes Mitglied Werner Rüdiger, die Öffentlichkeit verfolgte sein Schicksal ebenfalls. Das und nicht Gnade war vermutlich der Grund für seine vorzeitige Entlassung 1954.

Je weiter die Teilung der Stadt fortschritt, umso mehr verliert sich seine Spur. Der letzte Aktenvermerk im OdF-Konvolut stammt vom 26.10.1963. Werner Rüdiger sprach vor, um seinen Status als OdF zurückzuerhalten. Er arbeite in einem Privatbetrieb, ist nach eigenen Angaben politisch völlig inaktiv, seine politische Überzeugung habe sich im Wesentlichen nicht verändert. Erfolgreich war die Vorsprache nicht. Erst wenn er nachweise, dass er besondere Leistung für die Stärkung „unseres“ Arbeiter-und-Bauern-Staates vollbracht habe, könne man seinen Antrag entgegennehmen. Werner Rüdiger verstarb 1966.